Sie sind hier: Andacht der Woche  

23-26/2022
 

Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest.

Prediger 7,16

Hast du so eine Aussage in der Bibel erwartet? Muss es uns in unserem Glauben, in unserer Hingabe nicht ums Ganze gehen? Oder meint der Prediger, dass man an seinem eigenen Anspruch scheitern und sich damit selbst schaden kann, wenn man sich für „gerechter„ hält als andere?

Mich hat eine Aussage des Theologen Fulbert Steffensky bewegt. Sie lautet: „Ich lobe mir geglückte Halbheiten.„ Können Halbheiten befriedigen? Ist es das, was auch der Prediger meint? Kein Chef wird sagen: „Mach’s nur halb, das genügt.„ Und auch Gott liegt daran, dass wir ihn von ganzem Herzen lieben und ehren. Halbheiten sind diesbezüglich unmöglich. Wie wir nicht nur halb verheiratet sind, so können wir auch nicht nur halb Gott gehören oder halb gerettet sein. Entweder wir gehören ihm oder eben nicht.

Und doch erlebe ich, dass mein Glaube trotz ganzer Hingabe nicht perfekt ist, nicht völlig rund, nicht ohne Schwächen. Meine Hingabe an Jesus ist ganz und gar ernst gemeint, dennoch ist sie mit Versagen und Schuld behaftet. Obwohl sie nicht halbherzig geschieht, bleibt sie doch unvollkommen. Trotzdem erlaube ich mir ein kindlich-frohes Vertrauen auf den, der allein vollkommen ist.

Gott liebt uns, wie wir sind. Unsere Unvollkommenheit, unsere menschliche Begrenztheit, unsere Schwachheit – all das hindert ihn nicht daran. Wir müssen keinen Gehorsam „trainieren„, der weniger die Liebe Jesu spiegelt und stattdessen vielmehr die eigene Leistung betont. Dabei könnten wir nämlich den „Appetit„ am Glauben, die frohe und dankbare Geborgenheit, die „heilige Gelassenheit„ verlieren. Ich halte es mit dem Bischof Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: „Alle Vollkommenheit besteht im Vertrauen auf das Blut Christi.„

Es ist befreiend, wenn „ganze„ Christen zu ihrem Menschsein, zu ihrer „Halbheit„ stehen können: vollkommen erlöst und zugleich vollkommen bedürftig; ganz und gar gerettet und zugleich noch unterwegs mit staubigen Füßen. Unterwegs, ganz unverkrampft, dankbar und in der frohen Gewissheit, von Jesus angenommen zu sein. Ein Seelsorger gab einmal den Rat: „Danke für das, was da ist, und es wird sich unter dem Lobpreis vermehren.„

Hartwig Lüpke


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