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16/2018
 

Ich war ein Fremder, und ihr habt mich in euer Haus eingeladen.

Matthäus 25,35 (Neues Leben Bibel)

Marnow, Kreis Köslin (Pommern), 1. März 1945, 2 Uhr. Es ist der 16. Geburtstag meiner Mutter, an Feiern ist allerdings nicht zu denken. Die Familie schläft angezogen, die Sachen sind bereits gepackt. Der Inspektor klopft laut an die Tür. Es ist so weit. Schnell auf die Pferdewagen. Die sowjetische Armee kommt. Nichts wie weg. Der Treck setzt sich in Bewegung, mit Laternen wird den Pferden der Weg geleitet. Durchweg sind Schüsse zu hören, manchmal sind die Einschläge ganz nah. Die Angst ist gegenwärtig. Nach einigen Wochen entbehrungsreicher Reise hat sich der Treck aufgelöst, irgendwo an der Elbe.

Nach weiteren Jahren der Unsicherheit und Trennung trifft sich die Familie in einem kleinen Dorf in Niedersachsen. Als Flüchtlinge können sie dort einen Neuanfang machen. Mein Opa bekommt Arbeit auf dem Gut, als Melkermeister. Schließlich kann er ein staatlich gefördertes Haus bauen, in dem ich aufgewachsen bin.

Seit 2015 sind viele Flüchtlinge nach Europa gekommen. Manchmal sind wir unsicher, wie wir uns ihnen gegenüber verhalten sollen. Jesus ist uns hier ein deutliches Vorbild. Er identifiziert sich mit dem Fremden, mit dem Flüchtling, mit dem Vertriebenen, so wie es unser Tagestext sagt. Er ist selbst Flüchtling und Fremder auf dieser Erde gewesen (Joh 1,11). Im Alten Testament hat das Volk Gottes die Erfahrung des Fremdseins selbst erlebt (2 Mo 23,9), und die Gläubigen sind seit den neutestamentlichen Zeiten Fremde in dieser Welt: „Denn diese Welt ist nicht unsere Heimat; wir erwarten unsere zukünftige Stadt erst im Himmel.“ (Hbr 13,14 NLB)

Christen sollten sich dem Flüchtling und Fremden nicht in erster Linie deshalb zuwenden, um ein Gebot zu erfüllen, oder aus Mitleid heraus. Nein, die Motivation erfolgt aus einer starken Identifikation mit dem, der zu uns kommt, aus der Erfahrung des eigenen Fremdseins heraus. Das ist die Ebene des tiefen Verstehens und des Mitfühlens. So kann ein Christ gar nicht anders, als sich mit dem zu identifizieren, mit dem sich Christus durch sein Leben gleichgestellt hat.

Die Flüchtlingserfahrung meiner eigenen Familie hilft mir, das besser nachzuempfinden.

Roland Nickel


© Advent-Verlag Lüneburg


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